„Ohne meine Stimme im Kopf würde ich, glaube ich, gar nichts schaffen“

Menschen denken auf erstaunlich unterschiedliche Weise: Manche hören einen inneren Monolog, andere ganze Gespräche, wieder andere nichts. Was die Forschung darüber weiß und wie es das Denken prägt.


Von Tom Kern

Man kommt morgens mit einem aufmunternden: „Du schaffst das, ein Schritt vor den anderen“ vom Bett in die Dusche und abends mit einem „Puhh, was für ein Tag“ wieder zurück ins Bett. Dazwischen regt man sich stumm über unfreundliche Mitmenschen auf, oder bekommt eine fremde Stimme nicht mehr aus dem Kopf, die des gut aussehenden Barkeepers zum Beispiel. Manchmal kommen die Stimmen aber auch im Duett, etwa wenn man sich im Nachhinein pfiffigere Antworten für die schlecht verlaufene Gehaltsverhandlung mit dem Chef überlegt.

So geht es zumindest vielen Menschen: Sie formulieren ihre Gedanken im Kopf aus, was in der Forschung meist als „innere Stimme“ bezeichnet wird. Gemeint ist damit sowohl eine innerlich hörbare Stimme, als auch das Denken in Worten. Manche tun das fast immer, andere nur in besonderen Situationen. Zum Beispiel, wenn sie sich eine Telefonnummer merken müssen und sie dafür im Kopf immer wieder aufsagen.

„Meine innere Stimme ist sehr aktiv und sehr laut“, sagt Alain Morin, Psychologe an der Mount Royal University in Kanada. „Sie hört sich genau an wie ich selbst, mit genau derselben Tonlage.“ Vor fast 40 Jahren wollte er mehr über seine Stimme im Kopf erfahren und auch, ob andere ebenfalls solche Stimmen haben. Deswegen hat er angefangen, die innere Stimme wissenschaftlich zu untersuchen. „Das ist aber gar nicht so einfach, man hört die Stimme von anderen ja nicht und kann sie auch nicht messen.“

Zunächst wollte Morin vor allem wissen, in welchen Situationen Menschen überhaupt solche Selbstgespräche im Kopf führen. Hunderten Studierenden stellte er daher drei Fragen: „Worüber redest du mit dir selbst, warum tust du das und wann machst du das?“

Die Antworten hat er unter anderem 2011 im Journal Procedia – Social and Behavioral Sciencesveröffentlicht. Ein Ergebnis: Die meisten Menschen sprechen am liebsten mit sich selbst über sich selbst. Am allermeisten bewerteten und kritisierten die Studienteilnehmer sich selbst und andere. Häufig nutzten sie das, um ihre Emotionen zu regulieren. Oft genug redeten sie aber auch einfach darüber, was es als Nächstes zu essen geben soll. „Mit diesem Ansatz kann ich zwar herausfinden, worüber die Leute reden, aber wie sich das in ihrem Kopf anhört, davon habe ich keine Ahnung“, sagt Morin.

Dabei kann ein anderer Forscher weiterhelfen, der auch schon seit Jahrzehnten von Selbstgesprächen fasziniert ist. Und zwar mit noch mehr Fragen. Charles Fernyhough ist Professor für Psychologie an der Durham University. Er hat den Fragebogen VISQ-R mitentwickelt, der helfen soll, die Charakteristiken von inneren Gesprächen zu verstehen. Darin werden Probanden etwa gefragt, ob sie stumme Selbstgespräche eher als Dialog oder als Monolog führen und ob sie nur die eigene oder manchmal auch andere Stimmen im Kopf haben, etwa die der eigenen Mutter.

Manche denken in Sätzen, andere eher in Stichworten

„Wir konnten damit zum Beispiel zeigen, dass die Art, wie die inneren Stimmen reden, sich von Person zu Person unterscheidet“, sagt er. „Manche Menschen formulieren in ihrem Kopf ganze Sätze aus, bei anderen sind das nur Stichworte.“ Das sei aber nicht das Einzige. „Stimmen unterscheiden sich auch darin, wie positiv sie sind. Einige werden von ihren inneren Stimmen zu Höchstleistungen angefeuert, bei anderen sind die Stimmen eher kritisch eingestellt“, sagt Fernyhough. „Und es gibt auch Unterschiede darin, wie viele Stimmen die Menschen hören. Entweder viele verschiedene, oder nur die eigene.“

Fernyhoughs Arbeit zeigt auch, dass es Verbindungen zu psychischen Erkrankungen gibt: Bestimmte Ausprägungen der inneren Stimme könnten mit einer verstärkten Neigung zu auditiven Halluzinationen zusammenhängen – wenn man also etwa meint, Stimmen wirklich zu hören, wie es bei Psychosen vorkommen kann. Grundsätzlich aber ist eine innere Stimme nichts Krankhaftes, sie kann sogar positive Effekte auf die Psyche haben.

Ob es aber tatsächlich ein fast universelles Phänomen ist, dass sich Gedanken als Wörter, Sätze oder ganze Gespräche im Kopf entfalten, ist nach wie vor unklar. Die Linguistin Johanne Nedergård von der Universität in Kopenhagen hat das Phänomen untersucht und ist überzeugt, dass es große Unterschiede gibt. „Manche Leute sagen, dass sie in Bildern denken und erst, wenn sie etwas sagen müssen, das Bild in Worte fassen. Andere beschreiben ihr Gehirn eher als eine Art Computer, der einfach keine Wörter benutzt“, sagt sie laut einer Mitteilung ihrer Universität.

Alain Morin ist davon nicht so überzeugt. „Ich habe mir sofort gedacht, dass diese Menschen Schwierigkeiten im Alltag haben müssen. Ich sage nicht, dass ich selbst besonders gut funktioniere, aber ohne innere Stimme würde ich, glaube ich, gar nichts schaffen.“ Er bezweifelt darum, dass Menschen wirklich ganz wortlos denken können. „Vielleicht erkennen die Menschen ihre eigene Stimme einfach nicht?“

Kann es auch ganz still sein im Kopf?

Um solche Zweifel aus dem Weg zu räumen, hat Johanne Nedergård zusammen mit Gary Lupyan, Psychologe von der University of Wisconsin-Madison, untersucht, ob sich die Art, wie man denkt, auch auf kognitive Fähigkeiten auswirkt. In einer im Fachmagazin Psychological Science erschienenen Studie berichten sie, dass Probanden, die ihre innere Stimme besonders wenig benutzten, schlechter darin seien, sich Wörter zu merken und mehr Schwierigkeiten hätten festzustellen, ob sich zwei Wörter reimen.

„Die haben hier nicht Leute untersucht, die gar keine innere Stimme haben, sondern solche, die sie wenig benutzen. Das ist nicht dasselbe“, sagt Fernyhough dazu. Ob es also wirklich Menschen gebe, denen die innere Stimme komplett fehle, sei noch eine offene Frage, es gebe noch keine wirklich belastbaren Daten dazu.

Trotzdem bestätige die Studie, wie sehr die innere Stimme das Denken beeinflusst. „Innere Stimmen haben eine riesige Bandbreite an Funktionen, das wissen wir auch aus anderen Untersuchungen. Sie helfen dabei zu planen, was wir als Nächstes tun werden, helfen dem Gedächtnis, der Aufmerksamkeit und können uns trösten. Viele Künstler benutzen innere Gespräche, um wunderschöne Dinge zu erschaffen.“

Die innere Stimme wird niemals jemand anders hören können – aber künstliche Intelligenz kann zumindest helfen, sie nachzuvollziehen. In mehreren Studien ist es Forschern gelungen, aus Hirnscans mithilfe von Sprachmodellen darauf zu schließen, was ein Mensch bewusst gedacht oder innerlich gesprochen hat. Eine Art Gedankenleser also. Tatsächlich die innere Stimme von anderen lesen zu können, wäre aber nicht besonders nützlich, glaubt Fernyhough. „Unsere Gedanken sind oft sehr abgehackt, ähnlich wie Stichpunkte in einem Notizbuch. Da blicken wir nur selbst durch, Gedankenleser hätten keine Chance.“