Wie ist es, das Gesicht eines Fremden transplantiert zu bekommen?

Gesichtstransplantationen sind heikel – und mitunter gefährlich. Cengiz Gül ist das Risiko eingegangen und erzählt, wie es ihm mit seinem neuen Gesicht ergangen ist.


Von Tom Kern

Als Cengiz Gül das Telefon wieder ablegt, weiß er, dass alles schnell gehen muss. Er hatte lange auf diesen Anruf gewartet, damals, vor zwölf Jahren. Sein Arzt teilt ihm mit, dass ein Mann gestorben sei, bei einem Motorradunfall. Das Herz des Mannes schlug noch, das Gehirn war tot. Das Wichtigste für den damals 25-jährigen Cengiz Gül: Das Gesicht des Mannes hat den Unfall heil überstanden.

Denn Gül benötigt ein neues Gesicht, so erzählt er es heute der SZ in einem Video-Anruf. Sein eigenes war von einem Brand entstellt worden, als er zwei Jahre alt war. Er möchte deshalb sein eigenes Gesicht durch das des Toten ersetzen lassen – und wird damit zu einem der ersten Menschen weltweit, der eine Gesichtstransplantation erhält.

Der Eingriff erfolgte im Jahr 2012, erst zwei Jahre zuvor war die weltweit erste Operation dieser Art spanischen Ärzten geglückt. Für Gül war es ein großes Risiko, denn man wusste damals nicht genau, wie erfolgreich der Eingriff auf lange Sicht sein würde. „So eine Operation ist technisch extrem herausfordernd, dabei kann auch vieles schiefgehen“, sagt Patrik Lassus, Leiter der plastischen Chirurgie am Universitätsklinikum in Helsinki. Im schlimmsten Fall könne der Patient während der OP sterben, auf lange Sicht könne das körpereigene Immunsystem das fremde Gewebe abstoßen.

Jede vierte Gesichtstransplantation hält nicht länger als zehn Jahre

In einer aktuellen Studie hat nun Lassus mit Kollegen Daten der ersten 50 Gesichtstransplantationen weltweit ausgewertet. Die kürzlich im Fachmagazin Jama Surgery erschienene Arbeit kommt zu dem Schluss, dass nach zehn Jahren mehr als die Hälfte der untersuchten Patienten noch mit ihrem Transplantat lebten, es also nicht vom Immunsystem abgestoßen wurde oder die Patienten verstorben waren.

„Vergleicht man die Erfolgsrate mit anderen Organtransplantationen, ist sie hoch“, sagt Pauliina Homsy von der Universität Helsinki zu den Ergebnissen. Zusammen mit Patrik Lassus hat sie die Untersuchung geleitet. Beispiel Nierentransplantationen: Hier können nur etwa die Hälfte der Patienten länger als zehn Jahre mit dem Spenderorgan leben. „Natürlich sollte dieser Eingriff trotzdem noch die letzte Wahl sein. Aber wenn man bedenkt, wie stark das neue Gesicht die Lebensqualität der Patienten verbessert, ist es das Risiko in schweren Fällen auf jeden Fall wert“, sagt Homsy.

Gül jedenfalls, so erzählt er es heute, wollte das Risiko eingehen. Nach dem Anruf macht er sich eilig auf den Weg ins Krankenhaus, während ein Ärzteteam schon die Operation an dem toten Mann mit dem schlagenden Herzen beginnt.

Einem Toten das Gesicht zu entnehmen, sei eine extrem herausfordernde Aufgabe, sagt Patrik Lassus. „Zusätzlich zu der Haut muss man dabei alle Blutgefäße, Muskeln und Nervenbahnen in einem Stück entfernen.“ Weil die Zeit in diesen Operationen gegen die Ärzte spielt, arbeiten sie in einem großen Team.

Ist die Entnahme des Spendergesichts geglückt, erfolgt die Transplantation innerhalb von Minuten. Cengiz Gül sorgte sich: „Ich wusste überhaupt nicht, wie alt der Spender sein würde. Ich hatte gehofft, es würde jemand in meinem Alter sein. Am Ende war der Mann aber 15 Jahre älter als ich.“

Und dann, nur Stunden nachdem Cengiz Gül über den Tod des Mannes informiert wurde, geht die Operation los. Bei so einer Operation wird das alte Gesicht entfernt, Haut, Muskeln, Sehnen, Nerven, Blutgefäße, manchmal werden sogar Teile von Knochen abgetragen. Vom Gesicht sind dann nur noch Grundstrukturen übrig sowie abgeschnittene Nervenenden und abgeklemmte Blutgefäße. Sind diese Vorbereitungen abgeschlossen, kann das neue Gesicht aus der Kühlung geholt werden. „Die Nervenenden werden an die Nerven des neuen Gesichts angenäht und die Blutgefäße durch Nähte miteinander verbunden“, sagt Lassus. „Dann verbinden wir noch die Knochen mit Platten und vernähen die Muskeln.“ Sobald alles fertig ist, werden die Ränder des neuen Gesichts an die Haut des Patienten genäht.

„Es war, als würde mich ein Fremder anschauen.“

Für Gül verläuft die Operation erfolgreich. Doch zunächst möchte er sein neues Gesicht nicht sehen. Eine ganze Woche lang scheut er sich davor, in einen Spiegel zu blicken. „Ich wusste, dass es nicht schön sein würde. Mein Arzt hatte mir schon vorher gesagt, dass das Gesicht extrem geschwollen sein wird.“ In der Reflexion einer Kamera sieht er sein neues Gesicht nach einer Woche dann aber doch. „Das war wirklich unglaublich. Ich habe meine Augen wiedererkannt, aber den Rest vom Gesicht nicht. Es war, als würde mich ein Fremder anschauen.“

Wie der Verstorbene wird Gül aber nicht aussehen. „Wie wir Gesichter wahrnehmen und erkennen kommt auf viele Faktoren an“, sagt Patrik Lassus. „Zum Beispiel die Knochenstruktur unter dem Gesicht macht vieles aus. Deswegen sehen Patienten, die eine Gesichtstransplantation erhalten haben, oft nicht so aus, wie der Spender, aber auch nicht wie vorher. Sie sind eine neue Person.“

Sobald die Schmerzen der Operation abgeklungen waren, musste Cengiz Gül lernen, mit seinen alten Nerven, die neuen Gesichtsmuskeln zu bewegen. „Am Anfang hatte ich das Gesicht noch nicht unter Kontrolle. Ich bin eigentlich ein fröhlicher Mensch, aber als ich kurz nach der Operation versucht habe zu lachen, hat mein Gesicht das nicht mitgemacht. Niemand konnte sehen, wenn ich glücklich war.“ Das sei am Anfang ganz normal, sagt Patrik Lassus. Die Nerven, die während der Operation abgetrennt wurden, müssten erst neu wachsen und sich mit den neuen Muskeln verbinden.

Etwa einen Monat nach der OP erlangt er etwas Kontrolle über das Gesicht, nach zwei Monaten kann er schon erste Mimik zeigen. In einem Video, das zu der Zeit entstanden ist, sieht man, wie er stolz mit den Augenbrauen wackelt.

Er sieht dabei angestrengt aus, freut sich aber sichtlich über seine Leistung. „Heute kann ich sogar den Wind auf der Haut spüren“, sagt er. Dass sein Spender 15 Jahre älter war, stört ihn kaum noch. Heute, nach zwölf Jahren mit dem Gesicht eines Fremden, erkennt er sich selbst, wenn er in den Spiegel schaut. Das neue Gesicht ist sein eigenes geworden.