„Wir werden nicht aufhören, bis wir eine Karte des menschlichen Gehirns haben“

Fachleute sprechen von einem Meilenstein. Warum ausgerechnet das Gehirn einer Fruchtfliege kartografiert wurde und was das für die Neurowissenschaft bedeutet.


Von Tom Kern

„Das war großartig! Auf einmal war da ein Gehirn, in das ich reinschauen konnte. Ich habe dann immer weiter reingezoomt, bis ich irgendwann die Pakete gesehen habe, mit denen sich Nervenzellen Nachrichten zuschicken.“ So erinnert sich Gerit Linneweber, Neurobiologe an der Freien Universität Berlin, an den Moment, in dem er zum ersten Mal am Computer durch das Gehirn einer Fruchtfliege zoomen konnte.

Das war im Jahr 2018, als im Fachmagazin Cell Bilder aus dem Gehirn einer Fruchtfliege mit bis dahin unerreichter Präzision veröffentlicht worden waren. Das Gehirn einer Fruchtfliege ist zwar nur so groß wie ein Sandkorn und enthält lediglich um die 140 000 Neurone, doch bis dahin gab es kein dermaßen detailliertes Abbild einer solch komplexen Struktur.

Jetzt ist es einem internationalen Konsortium gelungen, den Blick ins Fliegengehirn nochmals deutlich zu schärfen. Im Wissenschaftsjournal Nature präsentierte das Team um den Neurowissenschaftler Sebastian Seung von der Princeton University jetzt eine vollständige Karte aller Neurone eines Fruchtfliegengehirns samt Verbindungsstellen. Das sind ungefähr 54,5 Millionen Synapsen, über die Neurone miteinander in Verbindung stehen. In diesen Verknüpfungen liegt die Fähigkeit des Gehirns, Erinnerungen zu speichern.

Obwohl das Fruchtfliegengehirn so winzig ist, stellt das digitale Abbild einen gewaltigen Kraftakt für die Wissenschaft dar. Zunächst schnitten die Forscher das Gehirn in 7000 Scheibchen, die im Elektronenmikroskop fotografiert wurden. Die Auflösung der Strukturen darin beträgt den millionsten Teil eines Millimeters. Am Computer setzte das Forschungsteam, zu dem auch Gerit Linneweber gehört, die Schnittbilder virtuell und mit KI-Methoden zu einem dreidimensionalen Abbild des Fliegenhirns zusammen. Dabei identifizierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mehr als 8000 verschiedene Zelltypen und erstellten so eine vollständige Teileliste des Fliegengehirns.

Sämtliche 139 255 Zellen eines Fruchtfliegengehirns und ihre 54,5 Millionen Verbindungsstellen.(Foto: Tyler Sloan for FlyWire, Princeton University)

„Das ist wirklich ein Meilenstein“, sagt Alexander Borst, Direktor am Max-Planck-Institut für Biologische Intelligenz bei München. Er erforscht schon seit den frühen 1980er-Jahren die Gehirne von Fruchtfliegen. „Wofür man früher Jahre der Forschung gebraucht hat, kann man mit diesem Datensatz jetzt in ein paar Mausklicks herausfinden“, sagt er.

Fachleute bezeichnen solche Gehirnkarten auch als „Konnektom“. Das größte bislang vollständig erfasste Konnektom war das eines Fadenwurms mit etwas mehr als 300 Nervenzellen. „Das Konnektom beschreibt das Netzwerk in unseren Köpfen, in dem ausgerechnet wird, wie wir die Welt wahrnehmen, welche Erinnerungen wir haben und was unsere Vorlieben sind“, sagt Moritz Helmstaedter, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Er war maßgeblich daran beteiligt, die Erforschung von Hirnkarten auf den Stand von heute zu hieven. Dieses Abbild des Nervengeflechts im Kopf enthält für ihn „einen Großteil der Informationen, die wir brauchen, um die Gehirnfunktion zu verstehen“.

Auch Helmstaedter misst dem nun veröffentlichten Konnektom eine hohe Bedeutung bei, denn er weiß, wie schwierig es ist, solche Karten zu erstellen. „Alle Nervenzellen, die wir kennen, kommunizieren über eine Art Kabel miteinander. Erstellt man ein Konnektom, möchte man genau wissen, wo jedes einzelne dieser Kabel herläuft.“ Bei der Fliege sei das besonders schwierig, weil das Gehirn so klein ist. „Hunderttausende Kabel sind da auf engstem Raum unglaublich dicht gepackt.“

Trotz der nur winzigen Schaltzentrale zeigen Fruchtfliegen ein erstaunlich komplexes Verhalten. Dazu gehört Grundlegendes, wie Sehen, Riechen, Schmecken und Hören. Fliegen können laufen und fliegen, über weite Distanzen navigieren und lernen. Aber auch anspruchsvolleren Aufgaben ist die Fliege gewachsen. „Zum Beispiel produzieren männliche Fliegen mit ihrem Flügel Liebeslieder, um die Weibchen zu beeindrucken“, sagt Alexander Borst. „Die Weibchen entscheiden dann wiederum, ob das Lied schön genug war, um sich auf das Männchen einzulassen.“

Mit Maus-Konnektomen soll die Entstehung von Krankheiten genauer untersucht werden

Aber auch weniger romantisches Sozialverhalten könne man bei ihnen beobachten, wie zum Beispiel Aggressivität. „Da wirbeln sich die Kontrahenten wie die Judo-Kämpfer durch die Luft. Dass die Tiere das alles mit diesem winzigen Gehirn steuern, ist wirklich unglaublich. Da gibt es nichts von Menschenhand Geschaffenes, was dem auch nur annähernd gleichkommt“, sagt Borst. Die Hirnkarte werde dabei helfen, besser zu verstehen, wie die Fruchtfliege das schafft. Und das soll auch zum Verständnis des menschlichen Gehirns beitragen. Davon ist auch Gerit Linneweber überzeugt: „Die Fliege ist ein faszinierender Modellorganismus, um grundsätzliche Dinge in der Biologie zu verstehen.“

Eine Karte allein wird aber nicht genügen, um das Gehirn restlos zu verstehen. „Nur weil wir jetzt wissen, wie genau die Nervenzellen miteinander verbunden sind, verstehen wir nicht automatisch, wie zum Beispiel psychische Krankheiten im Gehirn funktionieren“, sagt Alexander Borst. „Das ist im Grunde ähnlich wie mit dem Genom. Man kann heute mit recht wenig Aufwand alle Erbinformationen eines Menschen auslesen, aber versteht viele Erbkrankheiten noch immer nicht.“ Trotzdem sei das Konnektom eine riesige Arbeitserleichterung für zukünftige Forschungsprojekte.

Doch die Konnektomforschung stehe gerade erst am Anfang, sagt Moritz Helmstaedter. Er ist sich sicher, dass in den nächsten Jahren noch viel mehr Hirnkarten veröffentlicht werden. „Wir werden nicht aufhören, bis wir ein Konnektom eines menschlichen Gehirns haben.“ Im Moment werde vor allem daran gearbeitet, das erste Konnektom eines Säugetiers zu bekommen, zum Beispiel das einer Maus. Damit könne man noch viel weitreichendere Fragen zur Funktion des Gehirns und der Entstehung von Krankheiten beantworten. Man könnte etwa das Konnektom gesunder und kranker Mäuse vergleichen, um festzustellen, was der Unterschied in der Verbindungsstruktur ist.

„Dazu braucht man auch nicht das ganze Gehirn, ein kleines Stück reicht schon aus“, sagt Helmstaedter. An solchen Vergleichen arbeitet er bereits, auch mit winzigen Hirnstücken von Menschen.