Scott Small erforscht seit über 30 Jahren das Gedächtnis und behandelt auch schon genauso lange Patienten, die Probleme damit haben. Heute ist er Direktor des Alzheimer’s Disease Research Center an der Columbia University in New York. Im Laufe seiner Karriere als Gedächtnisforscher hat er Hunderte wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, hält mehrere Patente für seine Entdeckungen und hat schon das ein oder andere Abendessen mit Nobelpreisträgern hinter sich gebracht. In seinem Buch: „Vergessen – macht Platz für Wichtiges“ beschreibt er, warum Vergessen nicht nur normal, sondern sogar wichtig ist. Ein Gespräch über die Höhen und Tiefen der Vergesslichkeit.

SZ: Wie gut ist Ihr eigenes Gedächtnis?
Scott Small: Geht so. Viele Leute denken, dass ich als Arzt und Wissenschaftler ein großartiges Gedächtnis haben müsste. Ich glaube aber, ich bin da eher durchschnittlich.
In Ihrem Buch betonen Sie, wie wichtig Vergessen für ein gut funktionierendes Gehirn ist. Sind Sie froh, dass Ihr Gedächtnis nicht besser ist?
Ich wollte eigentlich immer besser darin sein, mich an Dinge zu erinnern. Als ich mich dann aber ernsthafter mit dem Vergessen befasst habe, ist mir meine eigene Vergesslichkeit plötzlich gar nicht mehr so schlimm vorgekommen.
Ist Vergesslichkeit für einen Arzt nicht ein Problem?
Ich habe einen Kollegen, der den Ruf hat, besonders gut zu erkennen, woran ein Patient erkrankt ist. Wir haben ihn einmal getestet, und seine Gedächtnisleistung liegt deutlich unter dem Durchschnitt. Er sagt, sein schlechtes Gedächtnis mache ihn bescheidener, was seine eigenen Fähigkeiten angeht. Deswegen arbeite er gründlicher und selbstkritischer als andere Ärzte. Ein gutes Gedächtnis ist also nicht alles, worauf es als Arzt ankommt.
Halten Sie sich fern von Menschen, die sich zu gut erinnern können?
Es geht mir nicht darum, Menschen mit gutem Gedächtnis zu diskreditieren. Ich will auch nicht pathologisches Vergessen romantisieren, wie zum Beispiel bei Alzheimer. Aber unser Gehirn braucht beides, Erinnern und Vergessen.
Welche Vorteile hat denn Vergesslichkeit?
Viele Bereiche unseres Lebens würden ohne Vergessen schlechter funktionieren. Unsere kognitiven Fähigkeiten wären betroffen, emotional ginge es uns schlechter und auch unsere Kreativität würde darunter leiden. Das ergibt auch aus neurowissenschaftlicher Perspektive Sinn.
Warum?
Dazu muss man wissen, wie unser Gehirn Informationen abspeichert. Das Gehirn besteht aus Neuronen, also Zellen, die elektrische Reize erzeugen und weiterleiten können. Die Zellen sind in einem gigantischen Netzwerk über Synapsen miteinander verbunden. Diese Verbindungen werden größer, wenn wir uns etwas merken. Oder sie werden ganz neu aufgebaut. Die Zellen haben dazu einen ganzen molekularen Werkzeugkoffer, der sich nur damit befasst, Synapsen zu bauen oder zu vergrößern.
Wir vergessen also dann, wenn die Verbindungen wieder verschwinden oder kleiner werden?
Genau. Lange Zeit hat man gedacht, dass das aus Versehen passiert, also dass die Synapsen zum Beispiel mit der Zeit kaputtgehen. Im noch recht neuen Feld der Vergesslichkeitsforschung hat man dann aber herausgefunden, dass es noch einen zweiten molekularen Werkzeugkoffer gibt, der extra dafür da ist, die Synapsen wieder abzubauen. Unser Gehirn löscht also aktiv Informationen, wenn es sie für unwichtig hält.
Wie entscheidet sich, welche Informationen behalten werden?
Wenn man ganz nah reinzoomt und es auf der zellulären Ebene betrachtet, gibt es dafür feste Regeln. Zum Beispiel wird immer dann eine neue Verbindung zwischen zwei Neuronen geschaffen, wenn beide gleichzeitig aktiv werden. Sind sie oft in unterschiedlichen Rhythmen aktiv, werden die Verbindungen wieder abgebaut. Warum man sich jedoch an die Festnetznummern der Freunde aus der Grundschule erinnert, der Name vom neuen Kollegen aber sofort wieder vergessen wird – das weiß ich nicht.
Warum vergisst das Gehirn überhaupt? Es wäre doch viel besser, alle Erinnerungen zu behalten.
Zum einen gibt es nicht unendlich viel Platz in unserem Kopf. Würden wir immer nur neue Verbindungen aufbauen, würde es irgendwann eng werden. Zum anderen schärft es die vorhandenen Erinnerungen, wenn weniger Wichtiges vergessen wird.
Gibt es noch andere Vorteile?
Ja, das sieht man vor allem in Fällen, in denen das Vergessen nicht so funktioniert, wie es sollte. Zum Beispiel können Menschen mit Autismus sich bestimmte Details besser merken als der Durchschnitt. Und in Studien sieht man, dass die Gene für Proteine, die beim Vergessen helfen, bei Menschen mit Autismus anders sind. Gleichzeitig haben diese Menschen oft Probleme, aus einzelnen Informationen ein großes, zusammenhängendes Bild entstehen zu lassen. Das legt nahe, dass wir Details vergessen müssen, um große Zusammenhänge zu erkennen.
Und hat das Vergessen auch Auswirkungen auf unsere Emotionen?
Für die Fähigkeit, anderen zu vergeben, ist ein schlechtes Gedächtnis von Vorteil. Würde die emotionale Erinnerung an ein verletzendes Ereignis immer gleich stark bleiben, hätten wir auch nach Jahrzehnten noch Mühe, nachsichtig zu sein mit Menschen, die uns nahestehen. Im Gehirn ist vor allem die Amygdala, eine mandelförmige Gehirnregion, ungefähr auf Höhe der Schläfen, für das emotionale Gedächtnis zuständig. Manche Menschen haben eine größere und sehr aktive Amygdala, bei anderen ist sie eher klein.
Wenn Ihr Nachbar jahrelang wütend auf Sie ist, weil Sie beim Einzug unhöflich zu seiner Frau waren, denken Sie sich dann: „Was für ein nachtragender Fiesling“ oder „Armer Kerl, seine Amygdala scheint nicht ganz richtig zu funktionieren“?
Letzteres! Tatsächlich habe ich durch meine Arbeit gelernt, empathischer zu sein. Es ist schwierig, aber wenn mich jemand wütend macht, frage ich mich: Sollte mir die Person nicht eher leidtun? Jedes Gehirn funktioniert anders. Ist man dadurch von aller Schuld befreit? Ich glaube nicht. Aber mir tun manche Politiker, Mafiabosse und andere Fieslinge leid. Wirklich.
Also gut, Vergessen ist super! Wie kann ich mehr vergessen?
Schlafen. Da werden die meisten Erinnerungen gelöscht, die sich über den Tag hinweg angesammelt haben. Schlafen wir nicht, kann das gesunde Vergessen nicht stattfinden und wir können neue Informationen nicht mehr so gut verarbeiten.
Sie behandeln auch Patienten als Neurologe. Wie gehen Sie vor, wenn jemand mit Gedächtnisproblemen zu Ihnen kommt?
Das Wichtigste ist es erst einmal zu verstehen, wo im Erinnerungsprozess etwas schiefgeht. Man kann das in drei Bereiche aufteilen. Als Erstes muss eine neue Information gespeichert werden. Dafür ist der Hippocampus zuständig, eine Hirnstruktur direkt hinter der Amygdala, also auch ungefähr auf Höhe der Schläfen. Wenn hier etwas schiefgeht, dann hat man Schwierigkeiten, neue Informationen zu speichern, aber kann sich noch genau an Dinge von früher erinnern. Das passiert zum Beispiel bei Alzheimer, weil der Hippocampus da als Erstes beschädigt wird.
Um die Erinnerung für lange Zeit abzuspeichern, sendet der Hippocampus Signale an andere Hirnregionen, hauptsächlich im hinteren Bereich des Gehirns. Dadurch werden dort die Mechanismen zur Stärkung von Synapsen aktiviert. Gibt es hier ein Problem, dann verlieren Patienten bereits gespeicherte Erinnerungen, sowohl von früher als auch von heute.
Schließlich braucht das Gehirn noch eine Struktur, die die gespeicherten Erinnerungen abruft. Das übernimmt der präfrontale Kortex, also der vordere Teil des Gehirns. Patienten, bei denen diese Hirnregion streikt, haben völlig intakte Erinnerungen, aber sie haben Schwierigkeiten, diese abzurufen. Aus dem Alltag kennt man das zum Beispiel, wenn einem das richtige Wort nicht einfällt, es aber „auf der Zunge liegt“.
Ich habe letztens mein Handypasswort vergessen, obwohl ich es jeden Tag eintippe. Ist das normal?
Ja. Um zu wissen, ob etwas mit dem Gedächtnis nicht stimmt, ist es auch gar nicht so wichtig, wie gut ihr Gedächtnis ist. Es geht mehr darum, ob es kürzlich schlechter geworden ist, als es mal war.
Meine Mutter ist Ende 50 und merkt, dass ihr Gedächtnis schlechter wird. Sollte sie sich Sorgen machen?
Es ist erst einmal ganz normal, dass im Alter das Gedächtnis schlechter wird. Genauso wie die Augen schlechter werden, wird auch unser Gehirn älter. Aber natürlich bleibt die Frage, ob es sich wirklich um einen normalen Alterungsprozess handelt oder um erste Anzeichen einer Demenz. Um das zu beantworten, braucht es eine Untersuchung beim Neurologen.
Was sind denn die ersten eindeutigen Anzeichen, dass es sich um eine Krankheit handelt?
Ein Symptom, bei dem ich als Neurologe hellhörig werde: wenn Patienten mir sagen, dass sie sich öfter verlaufen. Das ist ein starkes Indiz für die frühen Stadien von Alzheimer. Denn der Hippocampus, die Hirnregion, die neue Informationen abspeichert, ist auch für das Navigieren wichtig. Bei Alzheimer wird diese Region mit als Erstes beschädigt.
Ist es dann wirklich hilfreich, bei einem Arzt Hilfe zu suchen? Ein Heilmittel gegen Alzheimer gibt es nicht.
In den vergangenen Jahren hat sich die Alzheimerforschung immens weiterentwickelt. Wir haben jetzt erste Medikamente, die den Krankheitsverlauf etwas verlangsamen können. Das ist wirklich ein unglaublicher Fortschritt. Aber es stimmt schon, dass diese Medikamente nicht so gut wirken, wie man vielleicht gehofft hatte. Für mich als Arzt ist das frustrierend.
Kann man schon in jungen Jahren etwas gegen das Vergessen tun, bevor es zu spät ist?
Hier kann ich nur das empfehlen, was Mediziner Ihnen auch für die allermeisten anderen Krankheiten raten würden. Also gesunde Ernährung, Sport, gesunder Schlaf, Übergewicht und Diabetes vermeiden. Das ist so ziemlich das Einzige, wovon wir wissen, dass es wirkt. Sozial gut eingebunden zu sein, hilft auch. Deswegen kann es Menschen helfen, wenn sie ins Altersheim kommen, denn sie sind dort etwas weniger allein. Aber bei all dem gilt natürlich: Alzheimer kann man trotzdem bekommen. Man kann nur Risiken minimieren.
Was ist mit Gehirnjogging?
Kognitives Training ist auf jeden Fall nicht schlecht. Ein Problem damit ist aber, dass man dabei oft nur in sehr bestimmten Aufgaben besser wird. Andere kognitive Bereiche, die nicht spezifisch trainiert wurden, verbessern sich meist nicht.
Haben Sie Angst davor, selbst vergesslicher zu werden?
Wenn es eine Sache gibt, die meine Patienten mir beigebracht haben, ist das: Vergessen bedeutet nicht das Ende der Welt. Man kann immer noch eine schöne Zeit mit der Familie haben und zum Beispiel Musik genießen. Ein gutes Gedächtnis ist irgendwann nicht mehr notwendig, um ein erfülltes Leben zu führen. Die letzten Stadien von Alzheimer sind natürlich schlimm, das will ich nicht schönreden. Aber einfach nur das Gedächtnis zu verlieren, ist nichts, was mir Sorgen macht.